Der Hausmann, der hier aufräumt, ist T.M.J.
Interview mit Herrn J.
Interviewpartner: F: Frager und A: Antworter (T. M. J.)
F: Mr. Jones; Sie sind gerade dabei, das Internet mit einer Homepage zu bereichern.
Was bezwecken Sie mit dieser Homepage?
A: Es ist interessant, dass Sie mich mit „Mister“ anreden. Zum einen, weil ich ein absolut
androgynes, sogar zweigeschlechtlicher Mensch bin, zum anderen, weil ich im deutschen Kulturkreis
beheimatet bin und somit die korrekte Anrede „Herr“ lauten müsste. Aber wenn Sie „Frau“ sagen, ist es mir
umso rechter. Die Sprache hat für mich noch kein Wort.
F: Sie sitzen mir gegenüber. Sie sind nicht sehr groß, aber kräftig. Ihre schwarzen, langen Haare sind zu
einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre Stimme ist tief.
Ihr Name lautet: T. M. J. Für mich war es klar, dass Sie ein Mann sind. Bitte entschuldigen Sie,
wenn ich Ihre Gefühle verletzt habe.
A: Sie haben meine Gefühle nicht verletzt, aber ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Entschuldigung. Sie sind
ein achtsamer Mensch! Es ist ja durchaus korrekt. Was Sie sehen, bzw. nicht sehen, ist mein biologisches
Geschlecht, das eines Mannes. Mit 12 bekam ich Brüste. Man operierte sie mir weg, um mich eindeutig als
männlich klassifizieren zu können. Ich war damals nicht stark genug, dem Einhalt zu gebieten! Ich glaubte
auch, ich müsse das Eine oder das Andere sein. Nun weiß ich es besser. Endlich weiß es auch die
Gesellschaft besser! Letzte Woche beantragte ich meinen Pass neu: Ich bin jetzt so wie ich gehöre:
Intersexuell. Meine Brüste sind jedoch auf ewig verloren. Äußerlich bin ich ein Mann, doch innerlich bin ich
auch sehr Frau. Ich lebe für die Gemeinschaft.
F: Danke für ihre Offenheit. Was die Anrede „Mister“ betrifft, so ging ich aufgrund meiner Recherchen davon
aus, dass diese Anrede angemessen sei. Schließlich sind Sie verheiratet und Ihre Frau kommt aus den USA.
Sie haben den Namen Ihrer Frau angenommen: Jones.
A: Ja, sprechen Sie den Namen bitte Englisch aus, aber setzen Sie „Herr“ oder „Frau“ davor.
F: Herr Jones. Wozu diese Homepage? Wen möchten Sie erreichen? Was ist Ihr erklärtes Ziel?
A: Wie Sie bereits erwähnt haben, bin ich verheiratet. Aber ich habe auch 4 Kinder. Ich mache diese Homepage,
um meinen Kindern zu zeigen, wer ich bin.
F: Ein reines Hobby? Oder verdienen Sie damit Geld?
A: "Reines Hobby". Das haben Sie schön gesagt. Besonders mit der Betonung auf „rein“.
F: Meine Betonung lag eigentlich mehr auf „Hobby“.
A: Ich höre halt, was ich hören will.
F:
Also Ihr Hobby zielt darauf ab, Ihren Kindern zu zeigen, wer Sie sind.
Aber wieso glauben Sie denn, dass Ihre Kinder Sie nicht kennen?
A: Das ist eine sehr philosophische Frage. Meine Kinder kennen ja nur den Vater, der Ihnen den
Rücken stärkt, die Kleider kauft, das Haus sauber hält und das Essen auf den Tisch bringt.
Aber sie kennen nicht den Vater, der Himmel und Erde in seinem Geist vereinigt, der eine höhere Vision
vom Leben hat, als die Reproduktion der Fehler. Wenn ich einmal nicht mehr bin, dann müssen sich meine
Kinder mit meinem Nachlass rumschlagen. Schubladen voll mit Fotos, Gedichten, Geschichten, Briefen…
und dann müssen Sie die Entscheidung treffen: „Schmeißen wir den Kram gleich weg oder lesen wir erst
noch, was unseren Vater in seinem Innersten bewegt hat?“
F: Sie sagen, Sie wollen Ihren Kindern zeigen, wer Sie sind.
A: Richtig.
F: Und wer sind Sie?
A: Da stellen Sie einfach mal so aus dem Handgelenk die Gretchenfrage! Sehr beeindruckend!
F: Und?
A: Ich bin ich! T.M.J. 45 Jahre, verheiratet, Vater von vier Kindern, Hausmann. Meine Frau verdient
das Geld. Und was ich zuallererst bin: Ich bin absolut irreal. Vielleicht sollte man im kunsthistorischen
Kontext eher von sur-real sprechen. Mich gibt es gar nicht. Ich bin einzig eine Erfindung eines anderen
Geistes.
F: Wie kommt es dann, dass ich Sie hier an diesem schönen Tag im Spätherbst interviewen kann?
A: Das kommt nur dadurch, dass es Sie auch nicht gibt.
F: Jetzt begreife ich nicht mehr wirklich, was hier vor sich geht.
A: Sehen Sie! So ist es! So sind wir! Wir sind einfach nur Menschen, die sich in einem höheren System
bewegen, welches sie nicht begreifen.
Wenn die Menschen erstmal erkannt haben, dass die Winkelsumme im Kreis nicht 360 ° beträgt, sondern
die Anzahl der Winkel unendlich teilbar ist, dann haben sie das Wesen des Seins verstanden. Je mehr wir lernen
und dazu sind wir in unseren materiellen Körper gekommen, desto weniger wissen wir. Desto weniger sind
wir im Stande, uns ein Bild dessen zu machen, was ist. Viele Menschen sehen das nicht so. Sie denken, sie
werden schlauer, je älter sie werden. Sie denken, sie schreiben immer bessere Bücher, malen immer
schönere Bilder, kochen immer leckereres Essen, machen immer interessanteren Unterricht. Ich denke
nicht so.
F: Aber ist es nicht das Ziel, immer besser zu werden?
A: Ist das Ihr Ziel?
F: Ja.
A: Und wie beurteilen Sie, ob Sie besser werden?
F: Je öfter und intensiver ich Verbundenheit fühle, umso besser bin ich geworden.
A: Fühlen Sie sich gerade verbunden?
F: Ja. Ich fühle mich gerade sehr verbunden. Ich fühle Wärme. Ich fühle gerade, dass wir uns nicht mehr in
einem Interview, sondern in einem Gespräch befinden. Herr Jones, ich liebe Sie.
A: Ich liebe Sie auch. Darf ich Sie küssen?
DER KUSS
F: Was sind wir jetzt? Liebende? Geliebte? Sage ich jetzt „Du“ zu Ihnen?
A: Das sind nur Worte. Lassen Sie uns die Mitte kosten. Bleib hier, solange der Moment so schön ist. Lass Dich
anfassen, berühre mich.
F: Und wenn Ihre Frau kommt?
A: Dann werden wir sie spüren. Wir werden sehen, ob sie in der Mitte ist, ob wir sie in die Mitte
holen können. Ist es Schmerz, so werde ich genauso leiden wie sie und nicht eher wieder gesunden, bis sie
gesundet ist.
F: Ich kann nicht gehen. Ich kann nicht gehen aus diesem Ort, den es gar nicht gibt.
A: So bleibe.
F: Ich kann nicht bleiben, weil ich das Gefühl habe, nie mehr gehen zu können und wir können doch nicht so
lieben. Irgendwann kommt der Abschied und dann tut es wieder so weh.
A: Nein, das muss nicht sein. Wir können das. Wir haben es nur verlernt. Du kannst bleiben, solange Du bleiben
möchtest und Du kannst um das bitten, was Du brauchst.
F: Ich brauche Dich jetzt ganz und für immer.
A: Dann will ich Dir das geben.
F: Und Deiner Frau?
A: Der auch.
F: Die Zuversicht aus Deinem Mund! Wie bist Du so schön geworden?
A: Ich habe das letzte Feigenblatt von meiner Seele gelüftet und ich war immer noch nicht schuldig.
F: Wie meinst Du das?
A: Wir glauben, gut und böse zu kennen. Aber das tun wir nicht. Du denkst Schneewittchen ist unschuldig. Und
das ist sie ja auch. Sie kann schließlich nichts dafür. Sie ist schön und rein, wird vom Vater, vom Jäger und
von den sieben Zwergen geliebt. Schließlich bekommt sie auch noch ihren Prinzen und das Böse in Form
der Stiefmutter wird besiegt. Aber so ist das nicht. Die Stiefmutter ist die ewig Zweite. Nie kommt sie in die
Mitte. Nie kommt sie auf den Thron. Der König nimmt sich eine zweite Frau und hängt wahrscheinlich noch
an der ersten. Stattdessen liebt der Vater dann das Schneewittchen mehr als seine zweite Frau.
Wahrscheinlich hat er Schneewittchen auch mehr als seine erste Frau geliebt. Das ist die große Schuld der
Eltern. Sie lieben ihre Kinder mehr als ihre Partner. Und folglich lieben sie ihre Eltern auch mehr als ihre
Partner. Dieses unsichtbare Band wollen die Kinder trennen. Einige schaffen es nie. Denn sie kennen das
Wesen der Liebe nicht. Diese "lineare Liebe" ist falsch. So ist die Liebe nicht gemeint. Wir haben die vertikale
Liebe verlernt.
F: Ich habe die Mitte gerade wieder verloren. Du bist zu abstrakt. Erzähle mir lieber, warum die Stiefmutter
nicht böse sein soll. Die ist doch total böse: "Spieglein, Spieglein an der Wand...und dann will sie
Schneewittchen die ganze Zeit töten...Das ist doch absolut böse! Das ist doch Voldemort pur.
A: Ja, die Konsequenzen ihrer Taten wären furchtbar. Aber sie schadet sich nur selbst damit. Am Ende kommen
Prinz und Prinzessin zusammen und die böse Schwiegermutter stirbt. Wir können lernen, dass die Stiefmutter
nicht grundlos so böse wird. Es ist der Zorn der Ausgestoßenen, die Rache eines bescheuerten Schönheitsideals,
welches Schneewittchen verkörpert…wir sind alle schön! Hässlich werden wir nur dadurch, dass wir das nicht sehen.
Die Rache einer Frau, die nicht das bekommt, was ihr zusteht. Ihr gebührt die Liebe des Königs. Aber er mag
Schneewittchen lieber…Sie hängt am Prestige…Die Stiefmutter müsste sich auf den Weg machen, die Liebe zu suchen,
die ihr zusteht. Aber dafür muss sie auf Status verzichten. Das tut sie nicht. Sie glaubt, durch Beseitigung der Konkurrenz
die Selbstliebe und die Liebe des Königs zu gewinnen…ein Trugschluss…der dann ja auch bitter endet.
F: Warum reden wir jetzt über Schneewittchen?
A: Weil das reden über uns schmerzt.
F: Was schmerzt?
A: Ich bin die böse Stiefmutter. Ich muss gehen und meine wahre Königin suchen. Eine Frau, die mich liebt.
Egal ob Königin oder nicht.
F: So hat die Liebe doch ein Superlativ?
A: Wer weiß? Es muss doch spannend bleiben.
F: Mr. Jones, danke für das Interview.
A: Ich sehe, wir stehen wieder am Anfang.
F: Und das immer und immer wieder.